Prix LITRA 2024: Schienennetz – Wer bündelt, arbeitet effizienter
Der Bund steckt jährlich 3,5 Milliarden Franken in Erhalt und bedarfsgerechte Modernisierung der Bahninfrastruktur. Durch zeitliche Bündelung können die Unterhalts- und Instandsetzungsarbeiten kostengünstig und kundenfreundlich durchgeführt werden. Das ist der Leitgedanke einer an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften erstellten Bachelorarbeit, die mit dem Prix LITRA 2024 ausgezeichnet wurde.
Von Benedikt Vogel, freischaffender Autor
Pflege und Ausbau der Bahninfrastruktur sind eine Daueraufgabe, um die Attraktivität des Schienenverkehrs zu erhalten und weiter zu steigern. Neben umfangreichen Ausbaumassnahmen ist in den letzten Jahren zunehmend der Substanzerhalt in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Allein die SBB zählt jedes Jahr rund 20’000 Baustellen. Die überwiegende Zahl dient dem Unterhalt, während es sich bei 1’500 bis 2’000 um Instandsetzungs- und Erneuerungsprojekte handelt. Der gewaltige finanzielle und logistische Aufwand ist erforderlich, um die SBB-Infrastruktur in Schuss zu halten. Gemäss Netzzustandsbericht 2023 ist der Gesamtzustand aktuell «gut bis ausreichend».
Arbeiten zum Substanzerhalt optimal planen
Der gleichen Herkulesaufgabe, nur in kleinerem Massstab, sieht sich die Schweizerische Südostbahn AG (SOB) mit Sitz in St.Gallen gegenüber. Das Bahnunternehmen betreibt mit 145 Kilometer Gleisen und 182 Weichen das drittgrösste normalspurige Netz der Schweiz. Die Infrastrukturanlagen haben einen Wiederbeschaffungswert von 2,2 Milliarden Franken, rund die Hälfte entfallen auf 192 Brücken und 19 Tunnels. Durch gezielte Investitionen konnte der vor rund zehn Jahren identifizierte Bedarf im Bereich Fahrbahnerneuerung unterdessen komplett abgebaut werden. Das SOB-Netz ist heute in einem «guten» Zustand.
«Im Gegensatz zu den SBB hat die SOB ein recht überschaubares Infrastrukturnetz. Dennoch ist die finanziell und logistisch optimale Planung von Massnahmen des Substanzerhalts – also regelmässige Unterhaltsarbeiten und grössere Instandsetzungsprojekte – eine Herausforderung», sagt Livio Andina. Der 25-jährige Portfoliomanager kümmert sich bei der SOB unter anderem um die Lebenszyklen von Gleisen, Stromleitungen, Schranken und Bahnbauwerken, aber auch von Perrons und Anzeigetafeln sowie weiteren Bahnanlagen. Im Sommer 2024 schloss er eine Bachelorarbeit im Studiengang Verkehrssysteme an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ab. Im Zuge dieser Arbeit hat er ein Software-Werkzeug entwickelt, das errechnet, ob es wirtschaftlicher ist, zwei Projekte zum Substanzerhalt getrennt auszuführen – oder sie in einem Gesamtprojekt zu bündeln.
Bündelung oft zielführend
Eine Bündelung mehrere Projekte ist wünschbar, weil Unterhalts- und Instandsetzungsarbeiten heute tendenziell zunehmen und die dafür verfügbaren Zeiträume knapp sind, da sie den Bahnverkehr möglichst nicht beeinträchtigen sollen. Bündelungen von Instandsetzungsprojekten werden bisher mitunter noch zögerlich und ohne stringente Methodik vorgenommen. Dies auch deshalb, weil es aus wirtschaftlicher Sicht problematisch sein kann, eine Anlage vorzeitig – also vor Ablauf ihrer Lebensdauer – zu ersetzen, oder sie länger als vorgesehen zu nutzen und damit teure Störfälle zu riskieren.
Das neuartige Tool ist so ausgelegt, dass es die finanziellen Vor- und Nachteile einer Bündelung gegeneinander abwägt und dann das kostengünstigste Vorgehen sowie einen Umsetzungszeitpunkt vorschlägt. Als Datengrundlage nutzt das Tool den Investitionsplan, der alle geplanten Instandsetzungsprojekte einschliesslich Umsetzungszeitraum, Planungsstand und Kosten aufführt. Diese Angaben verknüpft das Tool mit den Daten aus der Anlagendatenbank, die Baujahr, Wiederbeschaffungswert, Nutzungsdauer und weitere Kennzahlen sämtlicher Bahnanlagen des Infrastrukturbetreibers auflistet. Ausgehend von einem beliebig wählbaren Referenzprojekt schlägt das Tool alle geplanten Investitionsprojekte vor, die für eine Bündelung in Frage kommen.
An Fallbeispielen erfolgreich validiert
Um das neuartige Planungswerkzeug zu validieren, hat Arbeitsautor Livio Andina dieses auf vier aktuelle Instandsetzungs- und Modernisierungsprojekte der SOB angewendet. «In drei Fällen hat sich das Tool für eine Bündelung entschieden, im vierten Fall gegen eine Bündelung; das Tool hat somit gleich entschieden wie unabhängig davon die Planungsfachleute der SOB», sagt Livio Andina. So hat das Tool zum Beispiel die Erneuerung von Fahrbahn und Stromversorgung auf der Strecke Samstagern – Schindellegi gebündelt, den Umbau der Publikumsanlagen inklusive des Stellwerks im Bahnhof Schindellegi hingegen nicht in die Bündelung einbezogen.
Die Fallstudien haben die Einsatztauglichkeit des Tools im vorgesehenen Bereich bestätigt. Dabei arbeitet das Software-Werkzeug einiges schneller als der Mensch: Es spuckt seine Ergebnisse innert weniger Minuten aus, während Planende mit wenig digitaler Unterstützung für entsprechende Abklärungen mitunter mehrere Tage brauchen.
Nicht alle Kriterien abgedeckt
Die Fallstudien haben zugleich die Grenzen des Tools in seiner bisherigen Konfiguration vor Augen geführt: Beim Entscheid für oder gegen eine Bündelung werden in der Praxis nämlich auch Kriterien herangezogen, die von Tool bisher nicht berücksichtigt werden. So werden – um ein Beispiel zu geben – die Erneuerung von Bahnstromanlagen und Fahrbahnanlagen auf der Strecke Biberbrugg – Einsiedeln zwar gebündelt vollzogen, aber ein Jahr früher als vom Tool empfohlen. Der Grund: Auf einer Anschlussstrecke ist 2027 – 2028 ein Doppelspurausbau mit Streckensperrung geplant, und so liegt es nahe, die Massnahmen auf der Strecke Biberbrugg – Einsiedeln auch in diesem Jahr umzusetzen.
Livio Andina würde das Tool gern weiterentwickeln. Um die volle praktische Relevanz zu erreichen, müsste es künftig neben der Wirtschaftlichkeit in Bezug auf die Lebenszyklen der Anlagen weitere Aspekte wie überregionale Betriebseinschränkungen, verlängerte Dauer von gebündelten Projekten, logistische Fragen wie Platzbedarf oder auch die Verfügbarkeit von menschlichen und materiellen Ressourcen einbeziehen. Wünschbar wäre ferner, künftig vermehrt den tatsächlichen Anlagenzustand zu berücksichtigen, also nicht nur den vermuteten Zustand, wie er sich aus der bisherigen Nutzungsdauer errechnen lässt.
SBB arbeitet mit Unterhaltsclustern
Bei der SBB ist die Bündelung insbesondere von Unterhaltsarbeiten heute schon gängige Praxis. Innerhalb des Programms UP 2.0 werden die Arbeiten in sogenannten «Unterhaltsfenstern» gebündelt. «Unser Ziel ist, 50 Prozent der Unterhaltsarbeiten in diesen Unterhaltsclustern umzusetzen», sagt SBB-Mediensprecher Moritz Weisskopf und ergänzt: «Bei den Investitionsprojekten ist es mittelfristig das Ziel, diese jährlich in vier bis sechs sogenannten Cluster-Projekten gleichzeitig umzusetzen und damit zu bündeln. Das ist im Prinzip nichts Neues – neu ist, dass die Methodik systematisiert wird.» Die Ideen, die Livio Andina in seiner Bachelorarbeit entwickelt hat, sind bei der SBB sehr willkommen. «Wir werden die Arbeit gern studieren und uns davon inspirieren lassen», betont die SBB.
Über Livio Andina
Nach einer kaufmännischen Ausbildung belegte Livio Andina berufsbegleitend den vierjährigen Teilzeitstudiengang «Verkehrssysteme» (neu «Mobility Science») an der School of Engineering an der ZHAW in Winterthur. Diesen schloss er im Juni 2024 mit dem Bachelor ab. Während des Studiums stiess Livio Andina für ein Praktikum zur Schweizerischen Südostbahn. Dort lernte er das Thema Substanzerhalt kennen, über das er schliesslich seine Bachelorarbeit schrieb, betreut von Dr. Thomas Herrmann vom Institut für Datenanalyse und Prozessdesign. «Der Prix LITRA bedeutet für mich eine Wertschätzung für den Effort, der hinter meiner Arbeit steckt», sagt der heute 25-jährige Bahnexperte.
Über den Prix LITRA 2024: Zwischen Instandhaltung, Fernreisen und individuellem Verhalten
Seit 2012 vergibt die LITRA den begehrten öV-Preis: In diesem Jahr wurden drei herausragende Bachelor- und Master-Arbeiten aus drei Schweizer Hochschulen zu folgenden Themen ausgezeichnet: Die Instandhaltung der Bahninfrastruktur, die Optimierung der Bahnreisen in Europa und unsere individuellen Gewohnheiten bei der Wahl des besten Verkehrsmittels. Der Prix LITRA 2024 überzeugt mit einer spannenden Themenvielfalt.
Im Rahmen dieser feierlichen Preisverleihung richtete sich Bundesrat Albert Rösti an die diesjährigen Preisträger – Zachary Hansen, Livio Andina und Matthias García – und bedankte sich für ihren Einsatz für eine nachhaltige Schweizer Mobilität.