Radikale Innovationen für die Mobilität der Zukunft: Einblicke von Prof. Hermann zur Rolle von Verhaltensänderungen, Intermodalität und autonomen Technologien im Regionalverkehr
Lieber Herr Hermann, Sie leiten das Institut für Mobilität an der Universität St. Gallen und forschen und fördern radikale Innovationen für eine nachhaltige und moderne Mobilität. Was verstehen Sie unter radikaler Innovation?
Es gibt natürlich zahlreiche Definitionen davon, was radikale Innovationen sind. Für mich wird es aber besonders spannend, wenn eine Innovation zu einer substanziellen Verhaltensänderung auf Kundenseite führt. Oftmals ist nämlich nicht die Technologie das Haupthindernis für die Akzeptanz neuer Produkte, sondern unsere eigenen Gewohnheiten. Das sieht man besonders deutlich im Bereich Mobilität. Zum Beispiel hängt die Verbreitung der Elektromobilität oder auch das Thema autonomes Fahren massgeblich davon ab, ob es uns gelingt, unsere Verhaltensweisen zumindest ein Stück weit zu verändern.
Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Hebel, um radikale Innovationen im Regionalverkehr zu fördern, insbesondere im Hinblick auf die Skalierbarkeit?
Wir müssen immer vom Markt und vom Kunden aus denken. Wie bereits erwähnt, scheitern radikale Innovationen häufig, wenn die notwendige Verhaltensänderung auf Kundenseite zu substanziell ist und man nicht genügend Geduld aufbringt, um diese Veränderungen zu ermöglichen. Es geht darum, menschliches Verhalten ein Stück weit zu verändern. Dafür braucht es vor allem Anschauung und Erfahrung.
Ein typisches Beispiel ist das autonome Fahren. Jeder Mensch hat eine Meinung dazu, ob er in ein solches Fahrzeug einsteigen würde oder nicht. Viele lehnen es ab, weil sie Bedenken haben. Doch wer es einmal selbst erlebt hat – ich bin bereits häufig autonome Fahrzeuge gefahren, auch auf Rennstrecken – erkennt schnell, wie gut das funktioniert. Diese Erfahrung schafft Vertrauen und führt oft dazu, dass man bereit ist, das eigene Mobilitätsverhalten zu überdenken.
Bei radikalen Innovationen ist genau das entscheidend: Anschauung und Erlebnisse, die es ermöglichen, die Innovation als Teil des eigenen Lebensverhaltens zu akzeptieren.
Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und der Industrie bei der Entwicklung zukunftsfähiger Mobilitätslösungen? Welche Beispiele oder Modelle halten Sie für besonders effektiv?
Das hängt natürlich davon ab, auf welche Hochschulen man schaut – eher technische oder sozialwissenschaftliche. Wir in St. Gallen sind selbstverständlich rein sozialwissenschaftlich ausgerichtet. Wir entwickeln keine neuen Technologien, aber wir unterstützen Unternehmen dabei, ein besseres Marktverständnis zu erlangen. Das bedeutet zum Beispiel, Workshops mit Kunden durchzuführen, Umfragen zu gestalten oder Geschäftsmodelle zu entwickeln, um herauszufinden, was tatsächlich funktionieren könnte. Unser Fokus liegt darauf, Mobilitätslösungen für die Märkte zu erarbeiten. Das ist unser Beitrag – einzelne Mosaiksteine, die zum übergeordneten Bild beitragen. Technische Entwicklungen machen wir hier in St. Gallen jedoch überhaupt nicht.
Welche Unterstützung oder Initiativen wünschen Sie sich von der Schweizer Bahnindustrie, bei der Entwicklung und Einführung von neuen Mobilitätslösungen?
Ich wünsche mir, – und das gilt genauso für die Automobilhersteller – dass man die Welt nicht immer nur aus dem Blickwinkel des eigenen Verkehrsträgers betrachtet. Die Bahn macht es im Grunde genauso: Sie sehen immer nur die Schiene. Und die Automobilhersteller sehen nur die Strasse.
Die Lösung für unsere Mobilitätsprobleme liegt jedoch sehr häufig in der Intermodalität, also darin, die verschiedenen Verkehrsträger viel stärker miteinander zu verzahnen. Ich würde mir wünschen, dass all diese Hersteller einmal vom Mobilitätsverhalten der Menschen ausgehen und dann überlegen: Okay, wir sind nur ein Element davon. Vielleicht braucht es das Auto, vielleicht Mikromobilität – aber es geht darum, ein Gesamtsystem anzubieten. Nicht einfach nur Schienenverkehr oder Automobilverkehr, sondern eine integrierte Lösung, die den Bedürfnissen der Menschen entspricht.
Wie sieht Ihre Vision für den Regionalverkehr der Zukunft aus, und welche Technologien oder Konzepte werden Ihrer Meinung nach entscheidend sein?
Ich hoffe wirklich, dass wir in unserem Land endlich über dieses Klein-Klein hinauskommen. In San Francisco sind bereits 250 autonome Shuttles im Regelbetrieb unterwegs.
Wir müssen auch in der Schweiz endlich grössere Lösungen umsetzen. Zum Beispiel: 50 autonome Shuttles in einer Stadt, intelligent verzahnt mit dem Bahnhof und der Mikromobilität. Der Regionalverkehr hat durch diese Technologien eine enorme Chance sich neu zu erfinden. So könnten wir diese elend langen Dieselbusse aus dem Verkehr ziehen und stattdessen kleine, elektrisch betriebene Shuttles einsetzen, die flexibel reagieren, per App gerufen werden können und keinen festen Fahrplan oder keine starre Route mehr benötigen.
Ich bin überzeugt, dass der Regionalverkehr durch diese neuen Technologien die Möglichkeit hat, sich komplett neu zu gestalten. Das wünsche ich mir – aber bitte im grossen Stil, nicht immer nur ein kleiner Shuttle hier und ein kleiner Shuttle dort, wie wir es seit zehn Jahren praktizieren.
Der Hebel, den wir im Verkehr erreichen können, ist, wenn wir einmal 50, 60 oder 100 solcher Shuttles in Städten haben, die miteinander vernetzt sind und per App gerufen werden können. Damit könnten wir dann auch andere Verkehrsmittel ersetzen, anstatt nur diese einzelnen Shuttles als isolierte Lösungen zu haben. Diese kleinen Shuttle-Projekte ersetzen nichts, sondern dienen nur zur Anschauung. Ich finde, wir befinden uns jetzt in einer Phase, in der wir diese Technologien wirklich in unsere Mobilität integrieren müssen, um sie zu verbessern. Und von diesem Schritt sind wir hier in der Schweiz noch meilenweit entfernt.
Oslo wird demnächst 500 Shuttles in die Stadt bringen, mit dem Ziel, bis 2030 insgesamt 30’000 solcher Fahrzeuge einzusetzen. Das ist ein Wort!
Vielen Dank für diesen interessanten Austausch.
Über Andreas Hermann
Andreas Herrmann ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und leitet gemeinsam mit Torsten Tomczak und Wolfgang Jenewein das Institut für Mobilität an der Universität St. Gallen (IMO-HSG). Zudem verantwortet er das Executive Education Programm für Smart Mobility Management. Seit vielen Jahren führt Andreas Herrmann erfolgreich Kooperationsprojekte mit Unternehmen wie Audi, Porsche, Roche, Sonova und zahlreichen weiteren Partnern durch.